Erklärung der Bewohner*innen der Fährstraße 115
Hamburg plant, günstigen Wohnraum abzureißen
Die Stadt Hamburg möchte unser Wohnprojekt in der Wilhelmsburger Fährstraße abreißen. Für die Stadt handelt es sich um einen formalen Akt “zum Zwecke des Hochwasserschutzes” gemäß §55b HWaG. Doch im Detail ist ihre Argumentation strittig: ein Abriss ist vermeidbar, unsozial und kostet Hamburg unnötig viel Geld – so unsere Anklage.
Anfang März informierte uns der Hamburger Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen darüber, dass er beabsichtigt, vom städtischen Vorkaufsrecht Gebrauch zu machen. Wir sind gerade im Begriff, das Wohnhaus zu kaufen und erhalten nun bis Ende März die Gelegenheit, uns in einer schriftlichen Stellungnahme hierzu zu äußern. Bereits Anfang April soll über die Zukunft des 100 Jahre alten Gebäudes und damit auch uns entschieden werden.
Die Kosten für die neue Wiese liegen im siebenstelligen Bereich
Das Reihenendhaus grenzt an den vielbefahrenen Reiherstieg Hauptdeich an, parallel dazu befindet sich der Ernst-August-Deich. Schon lange steht fest, dass dieser um 80 cm erhöht werden soll. Konkrete Pläne für die Deicherhöhung gibt es noch nicht. Die Internationale Bauausstellung (IBA) stellte bereits 2011 neue Pläne und Konzepte für den Stadtteil Wilhelmsburg zur Deicherhöhung vor, die konkrete Ideen aufzeigten, wie der Fortbestand des Wohnhauses mit dem Deichschutz vereinbar wäre (IBA-Machbarkeitsstudie, Seite 120-125). Auf unsere Nachfrage begründet der für den Deichbau zuständige Landesbetrieb Straßen Brücken und Gewässer (LSBG) den für 2023 geplanten Abriss jedoch nicht mit der bevorstehenden Erhöhung des Deiches, sondern damit, dass auf dem jetzigen Areal des Gebäudes ein so genannter Deichschutzstreifen notwendig wäre – im Endeffekt eine Wiese, die man bisher versäumt hatte, an dieser Stelle herzurichten. Eine Deicherhöhung ist in unserem ureigensten Interesse. Nur muss hierfür kein Wohnraum zerstört und kein Millionengrab geschaffen werden.
Ein Abweichen von den Vorschriften des HWaG sei angeblich nicht möglich, obwohl laut Deichordnung explizit Ausnahmen machbar sind und weite Teile des Deichs in der Umgebung keinen solchen Deichschutzstreifen aufweisen. Nur wenige Meter entfernt entsteht aktuell der Neubau des sogenannten Spreehafenviertels. Dort wird gemäß der aktuellen Pläne der angrenzende Deich ohne einen solchen Schutzstreifen gesichert. Bereits in den 90er Jahren wurden Planfeststellungs-Verfahren im Auftrag der Umweltbehörde durchgeführt, die das Fehlen eines Deichschutzstreifens auf Höhe der Fährstraße bereits hätten feststellen müssen. Zu diesem Zeitpunkt gehörte das Haus der – damals noch stadteigenen – Wohnungsbaugesellschaft SAGA und stand jahrelang leer. Doch anstatt entsprechende Maßnahmen zum Deichschutz umzusetzen, verkaufte die Stadt das Haus 2006 an den jetzigen Eigentümer.
Wir haben uns fachlich durch einen Bauingenieur beraten lassen. Es ist strittig, ob ein städtisches Vorkaufsrecht überhaupt vorliegt: dagegen spricht die jetzige Form des Deiches: er schließt beidseitig mit einer Mauer ab. Hierdurch ließe sich der Abschnitt des Deiches als eine Hochwasserschutzanlage definieren, deren vorgeschriebene Breite eines Deichschutzstreifens lediglich einen anstatt zehn Meter beträgt. Auch ist strittig, ob die Entfernung des Wohnhauses zum Deich (über 20 m) die Funktion eines Deichschutzstreifens obsolet macht.
Kauf und Abriss der Immobilie würde die Stadt bereits über eine Million Euro kosten. Unser Wohnprojekt wird durch eine Stahlbetonmauer zur Straße hin stabilisiert. Eine vermutlich notwendige Stabilisierung des benachbarten Gebäudes schlüge mit weiteren hunderttausenden Euro zu Buche. Außerdem stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit, wenn für die an dieser Stelle fachlich fragwürdige Errichtung eines Schutzstreifens günstiger Wohnraum unwiederbringlich zerstört wird.
Es ist ein Hohn, hier soll nicht nur Wohnraum, sondern eine ganze Idee zerstört werden!
Begonnen hat alles mit unserem Vorhaben, bezahlbare Mieten und den Fortbestand des 13 Jahre alten Wohnprojekts dauerhaft zu sichern. Wir wollten sicherstellen, dass wir auch weiterhin unseren Wohnraum gemeinsam gestalten und für Bewohner*innen des Stadtteils öffnen können. Zu diesem Zweck sollte das Gebäude gekauft und Teil des Mietshäuser Syndikats werden. Der Zusammenschluss aus über 150 Wohn- und Werkstattprojekten kollektiviert Gebäude und schützt vor Immobilienspekulation. Ohne unsere Initiative hätte der Vermieter überhaupt nicht verkauft. Nun macht die Stadt mit der Prüfung ihres Vorkaufsrechtes unserem Wohnprojekt einen Strich durch die Rechnung.
Unser Vermieter gründete dieses Haus 2006 bewusst als Wohnprojekt, suchte Leute, die gemeinsam mit ihm das Haus nach ihren Vorstellungen renovierten. Gemeinsam mit ihm entschieden wir, dass die Mietsteigerung sich ausschließlich an der Inflation orientiert. Deshalb mieten wir jetzt zu phänomenalen 8 €/m². Als wir vor drei Jahren den Kauf in die Wege leiteten, versicherte der Hauseigentümer, dass er nicht verkaufen müsse, aber gerne an uns verkaufe, da er die Idee unterstütze. Der Kaufpreis kann vor diesem Hintergrund als Freundschaftspreis verstanden werden. Im Februar 2020 unterzeichneten alle Beteiligten den Kauf- und Kreditvertrag. Dem vorausgegangen war ein zeit- und kostenintensiver Prozess: Wir gründeten einen Verein, prüften den Zustand des Gebäudes, verhandelten mit dem Vermieter und Banken, warben mehrere hunderttausend Euro an Direktkrediten ein – überwiegend von Freundinnen und Bekannten, gründeten eine GmbH und schlossen uns dem Mietshäuser Syndikat an. Die SAGA verzichtete auf unsere Anfrage bereits 2018 auf ihr Vorkaufsrecht und ließ es aus dem Grundbuch streichen. Alles schien in trockenen Tüchern.
Dass unser Vorhaben nun dem Deichschutz weichen soll, schockiert uns. Unser Kampf gegen die behördlichen Pläne wird durch die Corona-bedingten Verordnungen weiter erschwert: Treffen werden durch Telefonate ersetzt, Emails werden nicht an Parteien weitergeleitet, Pläne können nur mit Verzögerung aus den Archiven geholt werden. Auch Demos und Versammlungen fallen weg, aber eine Verlängerung der Frist wird uns nicht angeboten. Auch die Bank wartet auf eine Entscheidung.
Wir haben uns dazu entschlossen, die wenige verbleibende Zeit zu nutzen, um auf unsere Situation aufmerksam zu machen: “Wir fordern die Stadt Hamburg auf, ihre eigenen Versäumnisse nicht auf unserem Rücken auszutragen und von ihrem vermeintlichen Vorkaufsrecht zurückzutreten!”
“Hände weg von unserem Haus!”