SENATSBRIEF

Sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren,

als Wohnprojekt, das seit nunmehr 13 Jahren besteht, wollten wir im März 2020 das Wohngebäude in der Fährstraße 115, Flurstück 6925, kaufen und damit die Form unseres gemeinsamen Zusammenlebens sowie einen günstigen Mietpreis als ein Wohnprojekt im Mietshäuser Syndikat langfristig sichern.

Bei unserem Wohnprojekt „EinsEinsFünf“ handelt es sich um eine seit 13 Jahren existierende Hausgemeinschaft mit 16 Bewohner*innen, die auch als sozialer und kultureller Raum über den Stadtteil hinaus bekannt und im Reiherstiegviertel (Hamburg-Wilhelmsburg) fest etabliert ist. Wir stehen als Projekt für Teilhabe an Wohnraumgestaltung der Mieter*innen und gegen Vereinzelung in Hamburger Miethäusern. Unser Hauskauf mit Hilfe des Mietshäuser Syndikats sollte garantieren, dass das Haus dauerhaft ein Mietshaus mit günstigen Mieten bleibt. Um den bevorstehenden Erwerb des Hauses und Grundstücks zu sichern, haben wir bereits erhebliche Investitionen an Zeit, Arbeit und Finanzen getätigt.

Das Grundstück mit unserem Haus befindet sich direkt an der Ecke Reiherstieg-Hauptdeich und Fährstraße, ganz im Westen des Reiherstiegviertels und bildet den Abschluss eines Straßenzugs (siehe Anlage 1, Kartenauszug). Auf der gegenüberliegenden Seite des Reiherstieg-Hauptdeichs befindet sich in ca. 25 Meter Entfernung von der Grundstücksgrenze und dem Haus der eigentliche Deich, als Hochwasserschutzanlage. An dieser Stelle ist der Deich kein reiner „Erddeich“, sondern auf beiden Seiten mit einer Winkelstützwand eingefasst, wo sich auch der Böschungsfuß des Deichs befindet. Zwischen dem Deich und unserem Haus liegt ein Fußweg, eine Straße mit Abbiegespur und ein weiterer Fußweg (siehe Anlage 2, Abstandskizze und Foto).

Laut Aussage vom Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) ist es nun plötzlich „unabdingbar“ für Erhöhung bzw.Standsicherheit des Deiches unser Haus abzureißen.

Die Freie und Hansestadt Hamburg (im Auftrag des Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen, LIG) macht im AZ FB4.1.01.100-147/0261 kurzerhand von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch und begründet dies damit, dass

  1. ein großer Teil des Grundstücks heute zum Grund eines anliegenden Deichs gehöre, damit als Teil der Hochwasserschutzanlage anzusehen sei und abgerissen werden müsse. (Diese Argumentation darf inzwischen als überholt gelten. Der Böschungsfuß des Deichs befindet sich laut Planfeststellungsbeschluss vom 16.6.1995 in circa 25 Meter Entfernung, siehe Anlage 2)

  2. das Wohnhaus dem künftigen Ausbau des Deiches weichen soll.

Die Begründung ist unseres Erachtens nicht in sich schlüssig und absolut unverhältnismäßig. Deshalb plädieren wir an dieser Stelle auf den Bestandsschutz.

Darüber hinaus ist eine konstruktive Lösung für eine spätere Erhöhung des Deichs baulich möglich. Diese wurde bereits bei der letzten Deicherhöhung in den 1990er Jahren mittels Stützwand in Ansätzen vollzogen. Zum damaligen Zeitpunkt befand sich das Haus noch im Besitz der städtischen SAGA Siedlungs-Aktiengesellschaft und wurde erst später an den heutigen Verkäufer veräußert. Noch 2019 verzichtete die SAGA Unternehmensgruppe auf ihr grundbuchlich verankertes Vorkaufsrecht.

Um das Vorhaben, das federführend vom LSBG vorangetrieben wird, durchzusetzen, müssten neben unserem Wohnhaus auch das gegenüberliegende Wohnhaus Fährstraße 106 abgerissen werden. Damit würde Wohnraum im Umfang von mindestens 13 Wohneinheiten vernichtet werden. Außerdem würden hohe Kosten durch Kauf, Abriss und Entsorgung für die öffentliche Hand entstehen. Unberücksichtigt bleibt bei diesem Vorhaben auch die Frage nach der Standfestigkeit der verbleibenden Häuser in den beiden Zeilen der Fährstraße. Es ist völlig unklar, inwieweit die angrenzenden Gebäudeteile einwandfrei baulich abgefangen werden könnten und welche weiteren Kosten hier auf die Stadt hinzukommen. Wir möchten an dieser Stelle auch anmerken, dass wasserseitig zahlreiche Gebäude stehen. Wie wird die Deichordnung und das Hamburger Wassergesetz an dieser Stelle ausgelegt und wie möchte die Stadt mit diesen Wohneinheiten verfahren?

Hier werden neben der Vernichtung von Wohnraum auch Steuergelder verschwendet. Inwiefern steht dieses zu der Landeshaushaltsordnung §7? Wir stellen hier die Wirtschaftlichkeit in Frage und erwarten von Ihnen als Bürger*innen und Steuerzahler*innen eine Stellungnahme.

Die Kosten für den Kauf der genannten Gebäude inklusive der Abriss- und Entsorgungskosten erscheinen uns in keinem verträglichen Verhältnis zu einer konstruktiven Deicherhöhung zu stehen. Mit einer Winkelstützwand könnte etwa eine wirtschaftlichere und platzsparende Lösung geschaffen werden. Alternativ hatte die IBA bereits 2011 einen optisch ansprechenden Vorschlag ausgearbeitet, wie der Deich ohne Landnahme erhöht werden könnte (Machbarkeitsstudie Deichpark Elbinsel von 2011, Seite 124 -125). Auch ein Ausbau zur Wasserseite wäre möglich.

Wo an anderer Stelle konstruktive Lösungen für eine Deicherhöhung unter Einbeziehung der Interessen der Anlieger*innen gefunden wurden (beispielsweise im Bereich des Klütjenfelder Hauptdeichs), mangelt es im vorliegenden Fall an jeglicher konkreten Planung für Hochwasserschutzmaßnahmen. Es wird zwar auf eine generelle Absicht verwiesen, den Deich erhöhen zu müssen, allerdings ohne jegliche weitere Konkretisierung. Auf mehrfache Nachfragen in Gesprächen wurde nur auf eine zukünftige Klärung in einem langwierigen Planfeststellungsverfahren verwiesen und nicht auf unser Argument eingegangen, dass auch eine konstruktive Lösung für eine jetzige und spätere Erhöhung des Deiches möglich ist.

Dass keine Alternativen zum Abriss der Fährstraße 115 ernsthaft diskutiert werden, ist nicht nur aufgrund der damit einhergehenden Vernichtung von Bausubstanz und Wohnraum skandalös. Der bislang geleistete Aufwand an Zeit, Arbeit und Finanzen wäre verloren, würde das Vorkaufsrecht von der Stadt Hamburg ausgeübt. Selbst wenn uns die reinen Unkosten des Erwerbs erstattet würden, fallen schon jetzt erhebliche weitere Kosten für die Aufrechterhaltung der Finanzierung an. Unser Vorhaben wird so über Kurz oder Lang durch die Stadt zunichtegemacht.

Dabei wäre es für den Stadtteil ein beträchtlicher Verlust, wenn unser Wohnprojekt in der bisherigen Form nicht mehr weiter bestehen könnte. Auch unter wohnungspolitischen Gesichtspunkten wäre die Entscheidung für einen Abriss des Gebäudes ein Desaster. Die Stadt Hamburg wirbt mit Stadtwachstum und dem sogenannten „Sprung über die Elbe“. Das dieses „junge, multikulturelle und lebendige“ Wilhelmsburg auf Ihrer Website gerade mit einer Fotografie unseres Wohnprojekts beworben wird (www.hamburg.de/sehenswertes-wilhelmsburg), führt dieses Vorhaben ad absurdum und lässt ernsthaft an der Glaubwürdigkeit dieses Anliegens zweifeln.

Der jetzige Vermieter hatte sich lediglich zum Verkauf entschlossen, um unser Projekt von einem langfristigen sozialen Wohnhaus zu unterstützen und hat unter diesen Voraussetzungen den Preis kalkuliert. Somit nutzt die FHH hier diese Sachlage aus, um möglichst günstig ein soziales Wohnprojekt zu zerschlagen, obwohl bei den letzten Bürgerschaftswahlen mit den Themen „Mietpreise“, „sozialer Wohnungsbau“ und „Mietshäuser Syndikats Projekte“ ganz klar Wahlkampf betrieben wurde. So hieß es im Wahlkampfprogramm von Bündnis 90/Die Grünen zur Bürgerschaftswahl 2020 (dem „Grünen Zukunftsprogram“) unter dem Punkt Mieter*innen an die Macht:

  • Eine gute Möglichkeit, sich [gegen höhere Mieten und langfristigen Wohnungsverlust] zu schützen, ist das Mietshäuser Syndikat. […] Wir wollen, das Hamburg solche Projekte aktiv unterstützt.“ (Zukunftsprogramm Grüne 2020 , S. 45).

In ihrem Koalitionsvertrag 2020-2025 zur 22. Legislaturperiode schreiben Sie, als Senat der FHH, zur Wohnungs- und „sozial verantwortlichen Stadtentwicklungspolitik“:

  • Unser gemeinsames Ziel ist es, dass sich alle Menschen das Wohnen in Hamburg leisten können. Ausreichend bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen, ist eine zentrale soziale Herausforderung, der wir uns mit aller Kraft widmen. Wir werden in den kommenden Jahren unsere sozial verantwortliche Stadtentwicklungspolitik fortsetzen und noch nachhaltiger gestalten.“ (Koalitionsvertrag 2020-2025, S. 23)

Wir verstehen dies als eine Wohnungspolitik von Seiten des Senats, die unser Projekt unterstützen und stärken müsste und nicht die Hausgemeinschaft zerschlagen und das Haus abreißen will! Als Bürger*innen der Stadt Hamburg erwarten wir hierzu eine Erklärung von Seiten des rot-grünen Senats.

In den vergangenen Monaten war uns vonseiten des verantwortlichen politischen Gremiums (Kommission für Bodenordnung) zugesichert worden, dass alternative Lösungen für den Hochwasserschutz gesucht würden, „die den Erhalt des Objekts Fährstraße 115 sicherstellen“ könnten. Im Erfolgsfall sollte „eine Aufhebung des Ausübungsbescheides mit dem Ziel“ geprüft werden, „eine Umsetzung des ursprünglichen Ankaufs“ zu ermöglichen. Andernfalls hatte die Kommission in Aussicht gestellt, uns durch die Verwaltung bei der Suche nach einer adäquaten Ersatzimmobilie zu unterstützen.

In diesem Sinne hatte uns die zuständige Behörde für Umwelt und Energie (BUE) unter Mitwirkung der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen (BSW) zu einem Treffen eingeladen, um eine gemeinsame Lösung zu suchen, wie das Wohnprojekt erhalten und eine langfristige Perspektive für uns erreicht werden könnte. Ermutigt durch den Verlauf des Gesprächs hatten wir einen Vorschlag zum weiteren Prozedere unterbreitet, um in konkrete Gespräche über ein mögliches Alternativobjekt zum derzeit bewohnten und erworbenen Gebäude einzusteigen. Die Voraussetzung hierfür wäre selbstverständlich gewesen, dass etwaige vollziehende Maßnahmen seitens der FHH zu unterbleiben hätten. Unser Widerspruchsverfahren gegen die Ausübung des Vorkaufsrechts hätte für die Dauer der Gespräche ebenfalls geruht.

Eine adäquaten Antwort der beteiligten Behörden blieb jedoch aus. Stattdessen hat der LIG inzwischen unseren Widerspruch entschieden und damit ohne Not Fakten geschaffen. So wird bereits zum jetzigen Zeitpunkt überflüssigerweise eine langwierige gerichtliche Aus-einandersetzung erzwungen.

Wir verstehen diese Vorgehensweise als Affront und klaren Vertrauensbruch!

Die notwendige Erhöhung des Deiches erfordert nach aktuellem Kenntnisstand in keiner Weise die Einbeziehung des Grundstücks Fährstraße 115. Eine technische Lösung für die Deicherhöhung ist möglich und wäre wirtschaftlich erschwinglich. Hierzu bedarf es lediglich des politischen Willens von Seiten der verantwortlichen Behörden. Die Argumente für die Ziehung des Vorkaufsrechts, dass für eine spätere Erhöhung der bestehenden Deichlinie bzw. Hochwasserschutzlinie dieser Bereich vorsorglich von der FHH gekauft und damit gesichert werden soll, ist hier noch einmal kritisch zu überprüfen.

Mit freundlichen Grüßen

Das Wohnprojekt „EinsEinsFünf“